Page 15 - KABINETT-2020-01
P. 15
Politik
gung, eher auf Probleme als auf Erfolge hin- die EU keinen Zweifel: der Kampf gegen und zu formulieren. Voraussetzung da-
zuweisen, sagt unser Bundestagspräsident. die Corona Pandemie und die Herausfor- für ist es, dass die EU mit einer Stimme
Ritter: Er sagt vor allem, verglichen mit derung durch den Klimawandel. spricht, anstatt z.B. gegenüber China mit
anderen geht es uns ziemlich gut. Wir Für die EU-Präsidentin Ursula von der 27 Einzelstimmen aufzutreten.
haben jede Menge Probleme, die Welt Leyen ist der Europäische Green Deal Kabinett: UN-Generalsekretär Guterres
ist kompliziert, aber alle beneiden uns. unsere Blaupause für den Übergang. Der hat in seiner Eröffnungsrede zu General-
Ein Marsmännchen, das durch Deutsch- Kern ist, dass wir bis 2050 der erste kli- debatte der UN-Vollversammlung eine
land liefe, würde nicht erkennen, dass maneutrale Kontinent werden. düstere Einschätzung zur Lage der Welt
unser Land einmal getrennt und Berlin Aber es reicht nicht aus, die Grenzwerte abgegeben.
durch eine Mauer geteilt war. herabzusetzen, es geht um viel mehr. Es Ritter: Ja, ein epochaler Gesundheitsnot-
Kabinett: Sie haben immer wieder betont, geht um eine systemische Modernisierung stand, ein wirtschaftlicher Niedergang
die Wiedervereinigung Deutschlands und der Wirtschaft, Gesellschaft, Technologie und Verluste von Arbeitsplätzen. Ebenso
des geeinten Europas sind die zwei Seiten und Digitalisierung. Unser jetziger Kon- wie die Gefahr eines neuen Kalten Krie-
derselben Medaille. sum, der Verbrauch an Rohstoffen wie ges zwischen USA und China.
Ritter: Die Wiedervereinigung hat für Wasser und Lebensmittel, der Landver- Heute haben wir einen Überschuss an
Deutschland und Europa enorme Chan- lust – das alles ist nicht nachhaltig. Herausforderungen und ein Defizit an
cen eröffnet. Europa konnte erfolgreich Der Green Deal muss auch ein neues Lösungen. Man braucht eine effektive
weiter gebaut werden. Damit ist auch kulturelles Projekt für Europa sein. Ein Zusammenarbeit mit Visionen und Ehr-
Europa wiedervereinigt. Kalter Krieg, Ost- „Neues Europäisches Bauhaus“ könnte geiz für die Probleme wie Überbevöl-
West-Konflikt, Eiserner Vorhang mitten praktische Antworten geben auf die ge- kerung, Umweltschutz, Klimawandel,
durch Deutschland und mitten durch Eu- sellschaftliche Frage wie modernes Leben Ungleichheiten und weltweiten Benach-
ropa sind beseitigt worden. Die Europäi- für Europäerinnen und Europäer im Ein- teiligungen von Frauen zu begegnen und
sche Union ist nicht nur der größte Bin- klang mit der Natur aussehen kann. Es den Kampf gegen Terror, Hass und Armut
nenmarkt der Welt, sie ist in der Vielfalt kann helfen, die Zukunft schöner und zu führen.
der Nationen und Regionen gemeinsame humaner zu gestalten. Kabinett: Sind nicht Veränderungen der
europäische Kultur. Kabinett: Was ist mit der Migrationsfrage? Vereinten Nationen notwendig?
In der EU gibt es seit über 70 Jahren Frie- Ritter: Der Vorschlag der EU-Kommis- Ritter: Ja, darauf haben viele hingewie-
den. Das hat es in der deutschen und eu- sion für eine neue Migrationspolitik hat sen. Das Haus ist in Unordnung. Seine
ropäischen Geschichte noch nie gegeben. das Potenzial die Migration nachhaltig Fundamente werden ausgehöhlt, seine
Seit der Wiedervereinigung sind wir nur zu verändern oder zu zerbrechen. Vor Wände werden manchmal rissig unter
von Freunden umgeben. Das wurde alles weiteren deutschen Alleingängen in der den Schlägen jener, die es selbst aufge-
vor 30 Jahren zusammengebracht. Flüchtlingspolitik kann man nur warnen. baut haben.
Kabinett: Und in Deutschland? Manchmal hilft es, die Perspektive zu Wir brauchen Reformen bei den Verein-
Ritter: Wir sollten einander mehr zuhören wechseln. Wir müssen auch in Deutsch- ten Nationen. D. h. Auch grundlegende
land mehr europäisch denken.
und verstehen. Nicht nur Ost oder West, Neuordnung der internationalen Macht-
Nord oder Süd, auch In Stadt oder Land Kabinett: Worauf kommt es jetzt in Europa an? verhältnisse, um globale Ungleichheit zu
und gerade den 26 Millionen mit Migra- Ritter: Deutschland und Europa müssten bekämpfen. Ungleichheit beginnt ganz
tionshintergrund. Vielen in Deutschland in der Lage sein, Sicherheit an den Gren- oben in globalen Institutionen. Die Ver-
ist gar nicht bewusst, dass 21 Millionen zen lückenlos zu vollstrecken. einten Nationen brauchen Reformen und
Deutsche ausländische Wurzeln haben. Die 27 EU-Staaten sollten ihre Zusam- eine Erweiterung des Sicherheitsrats, der
Die allermeisten von ihnen stammen aus menarbeit in der EU wirklich forcieren, sich zu oft blockiert, wenn es auf klare
unseren Nachbarländern oder haben El- in dieser zum Teil sehr aggressiven Welt, Entscheidungen ankommt. Allerdings
tern aus einem anderen europäischen der wir gegenüberstehen, können wir als können die Vereinten Nationen letztlich
Land. Was ich sehr schlimm finde, dass Mitgliedsland alleine wenig ausrichten. nur so gut sein, wie ihre Mitglieder sich
mit den Migranten der letzten fünf Jah- Hier ist Europa gefragt, weil wir bei den einig werden.
re, hunderttausende Antisemiten nach vielen Unterschieden und bei allem, was Auch der UN-Menschenrechtsrat steht
Deutschland gekommen sind. Von den uns manchmal trennt, doch auf unsere seit langem in der Kritik: Despoten und
sogenannten „Gefährdern“ und Sofatä- europäische Kultur, unsere Wertefunda- Diktatoren schützen sich hier gegenseitig.
tern ganz zu schweigen. mente und unsere gemeinsamen Prin- Kabinett: Was steht für die Welt auf dem
Kabinett: Welches sind die Prioritäten im zipien setzen können bei unseren ge- Spiel?
heutigen Europa? meinsamen Interessen. Weitere große Ritter: Wenn sie autoritäre Nationalis-
Ritter: Da gibt es einen großen Bogen Anstrengungen sind notwendig, denn ten wie Trump (USA), Putin (Russland),
vom Zusammenhalt der 27 Mitgliedstaa- einigendes Zusammenwirken ist kein ab- Xi (China), Modi (Indien), Bolsona-
ten untereinander bis zur Rolle der EU in geschlossener Prozess. Die europäische ro (Brasilien), Erdogan (Türkei) an der
der Weltpolitik. An ihren Prioritäten lässt Union muss lernen, selbst europäische Macht haben, kann das zu ernsthaf-
Interessen weltpolitisch zu verteidigen
Foto © pixabay.com
Kabinett | 13